Ich wollte lange schon diesen Erfahrungsbericht schreiben. Es ist so schwer weil ich gar nichts weiß wo ich anfangen soll. Es gibt so viel, das Raum bekommen sollte. Nicht nur was ich als weiße, schlanke, cis Frau erlebe! Deshalb unsortiert hier mehrere Erlebnisse oder Beobachtungen, die ich gemacht habe. Diese Beobachtungen sind absolut gewöhnlich. Teilweise so gewöhnlich, dass es im Austausch mit anderen aus dem Handwerk unwirklich erscheint. (Wie kann das sein, dass die Geschichten sich häufig so ähneln?)
Aus meiner Ausbildungszeit:
Die ganze Klasse (überwiegend junge Männer) hängen am Fenster und lachen alle darüber als Einer von ihnen eine kleinwüchsige Mitschülerin „Standgebläse“ nennt. Danach reden sie durcheinander über Pornos und welche Frauen sie „geil“ finden. Ich traue mich nicht etwas zu sagen als einzige anwesende Frau.
Ich wurde von anderen Azubis und Kollegen im Betrieb und auf Baustellen sexuell belästigt, angegafft und für weniger stark oder wert gehalten.
Beispielsweise erklärte ich die Aufgabe unmittelbar nachdem der Meister es erklärte weil der andere Azubi fragte. Er wollte mir nicht glauben und ging anders an die Aufgabe heran. Ich befasste mich mit der Aufgabe wie angeleitet. Später bekam ich Ärger dafür, dass der andere Azubi die Aufgabe falsch ausführte. Der Meister erwartete, dass ich die Aufgabe übernehme oder „petze“. Der Azubi, übrigens ein Lehrjahr über mir, erwartete, dass ich es ihm besser erkläre.
Ein anderer jüngerer Azubi stellte sich hinter mich als ich gebückt etwas auffegte und bemerkte meinen Hintern als ob er für ein Porno sprach. Ich konnte danach nie wieder mit ihm reden ohne zu glauben, dass er mich sexualisiert betrachtet.
Ich fing an solche Sprüche und Verhalten zu antizipieren. Ich bücke mich grundsätzlich nicht mehr wenn es sich vermeiden lässt auf der Arbeit und esse nur ungern vor Männern, die ich nicht kenne. Im Pausenraum achtete ich darauf nicht im Blickfeld des riesigen Nacktkalenders zu sitzen.
Ein Tischlergeselle nennt mich immer wieder „Mariechen“. Ich weise ihn mehrfach darauf hin, dass er mich bei meinem Namen nennen soll (Ich heiße nicht Marie!). Er WILL provozieren und macht es noch mehr und absichtlich. Ich beschwere mich auch bei dem Vorarbeiter und Kollegen, sein Verhalten bleibt ohne Konsequenzen. Im Gegenteil, da ich ihn jedes Mal zur Rede stelle oder korrigiere, rollen die anderen Kollegen die Augen und sind von mir genervt!
Der gleiche Geselle zieht auf einer Baustelle über dicke Menschen her. Er ist selber dick. Was er sagt ist so extrem und Frauen verachtend, dass ich einen Kloß im Hals habe. Ich bin die einzige Frau auf der Baustelle. Am meisten ist mir hängen geblieben, dass er über seine eigene Tochter gesagt hat: „Die ist so dick, die würde nicht mal ich ficken.“
Seit Ende meiner Ausbildung:
Der Tischlermeister (weiß) beschwert sich über einen nicht anwesenden Tischlergesellen (Schwarz) und brüllt durch die Werkstatt, bezeichnet ihn dabei als N-Wort. Es sind mindestens 3 ältere Tischlergesellen in Hörweite, zwei Azubis und ich (alle weiß). Dass der Meister brüllen gelassen wird ist nichts ungewöhnliches, dennoch bin ich schockiert, dass keiner was sagt. Nach einer kurzen Schockstarre bin ich auch laut und lasse ihn nicht mehr zu Wort kommen. Ich mache solange weiter bis er aufgibt. Er sagt das N-Wort nicht mehr, aber versucht immer wieder mit seiner Hetze fortzufahren. Ich berichte den Chef und den Vorarbeiter darüber.
Ein paar Tage später stehen dieser Meister, Chef und Vorarbeiter im Flur des Büros. Es ist eine morgendliche Durchgangssituation. Als ich durch möchte und der Meister mich sieht fängt er schon wieder mit der gleichen Hetze an und ersetzt lediglich das N-Wort mit „Leibeigener“. Wieder werde ich laut und benenne die Sache klar und direkt vor dem Chef und dem Vorarbeiter. Die Situation löst sich spontan auf und später haben sie das „gar nicht gehört“.
Diese Geschichte allein sagt so viel über den rassistischen Normalzustand im Handwerk aus!
Ein Elektrikergeselle lässt den Azubi ständig laufen und bestellt jedes Mal wenn dieser grade zurück gekommen ist das nächste Teil. Er scheint sehr geübt zu sein die Schikane ganz „harmlos“ aussehen zu lassen. Der Geselle versucht mit mir zu bonden auf Kosten des Azubis (Niveau: Wasserbiegezange suchen lassen). Alle machen ihr Ding auf der Baustelle, der Geselle fällt immer wieder auf weil er laut das „gebrochene“ Deutsch des Azubis nach äfft.
Dem gehörlosen Kollegen werden Bilder von nackten Frauen an den Arbeitsplatz gestellt oder aufgehangen. Die meisten glauben er stellt sie selbst auf.
Ein Tischlergeselle hat regelmäßig morgens um 7 Uhr eine starke Alkoholfahne. Es scheint bekannt zu sein in der Firma, dass dieser „ein Alkoholproblem“ hat. Trotzdem werden ihm regelmäßig Azubis und Leiharbeiter mitgegeben, die dann bei ihm im Auto mitfahren müssen. Ich weiß nicht wie ich damit umgehen soll und halte es nicht für meine Verantwortung über Alkoholismus oder Pflichten des Arbeitgebers aufklären zu müssen.
Es ist üblich, dass sich morgens die Hand gegeben wird zur Begrüßung. Der Meister fängt an mir jeden Morgen so fest die Hand zu geben, dass es weh tut. Tatsächlich befürchte ich ernsthafte Verletzungen davon zu tragen. Ich benenne das nach dem 3-4 Mal direkt in den Situationen: Bitte nicht so fest / Das tut mir weh. / Kannst du bitte mir die Hand nicht zerdrücken?
Er hört für 2-3 Wochen auf und fängt dann wieder damit an. Mir ist klar, dass es sich um ein Machtspiel handelt und ich bin immer wieder in der Situation damit umgehen zu müssen. Weil Ansprechen nicht hilft, versuche ich andere Dinge: Er zerdrückt mir die Hand und ich stoße einen lauten und übertrieben Schmerzschrei aus oder ich halte ihm die Hand hin, aber er kriegt nur noch zwei Finger zu fassen usw. Das geht ungefähr ein halbes Jahr so, er zerdrückt meine Hand, ich reagiere, er hört für 2-3 Wochen auf und dann geht es wieder von vorne los.
Das endet darin, dass ich allen die Hand gebe, nur ihm nicht, weil meine Hand tatsächlich schmerzt. Spätestens jetzt bekommen das alle in der Firma mit. Er kommt mir hinterher als ich alleine bin und stellt mich zur Rede. Als ich sage, dass ich es nicht einsehe mich verletzen zu lassen und die Schnauze voll habe, kann er nicht damit umgehen und sagt er versteht das. Erst dann hört er damit auf.
Ein Schwarzer Leiharbeiter verliert die Anstellung in der Tischlerei nach einem Konflikt mit einem weißen festangestellten Gesellen. Der Konflikt wurde nur von einer Seite angehört (außer von mir) und der Leiharbeiter wurde „spontan entlassen“. Die Kündigung spricht eine weiße Person, der seine Kompetenzen damit überschreitet. Es wird sich weder von der Belegschaft noch vom Chef um eine Klärung bemüht und die Situation schulterzuckend hingenommen.